Epic Fails in der Produktentwicklung – oder: wenn Nutzer nicht einbezogen werden

Mann sitzt verzweifelt vor seinem PC und schreit.

Sie haben eine großartige Idee für ein neues Produkt? Dann schnell entwickeln und auf den Markt werfen! Nutzer befragen? Testen? Marktanalyse? Brauchen Sie nicht, Sie kennen schließlich Ihre Nutzer und wissen was auf dem Markt gerade los ist. Außerdem haben die Nutzer sowieso keine Ahnung, was sie wirklich brauchen. Ich zitiere nur mal den großen Henry Ford:

    “If I had asked my customers what they wanted, they would have said a faster horse.”

Also viel Erfolg! Das wird super!

Bei ein paar Projekten, zu denen wir in der Vergangenheit gerufen wurden, scheint es so oder so ähnlich abgelaufen zu sein. Meistens endeten diese Projekte in kleineren oder größeren Katastrophen. Statt nun ein emotionales Plädoyer für mehr und bessere User Research zu halten, möchte ich von einigen dieser Katastrophen berichten, die in der Techwelt bekannt wurden oder aus unserem Agenturumfeld stammen. Das ist anschaulicher und viel wichtiger – auch unterhaltsamer.

Fail 1: Produkte, die nicht gebraucht werden

Usability von Produkten ist nicht einfach

Der Juicero – eine 400$ Saftpresse, Quelle: juicero.com

Unter den Produkten, die keiner braucht, ist sicherlich einer der prominentesten Vertreter der letzten Zeit der Juicero. Tja, wo soll man bei Juicero anfangen? Mit seinem minimalistischen weißen iPod-Design, der Technik aus „Aircraft-grade aluminum and precision-forged gearing components“ und seiner Internetconnection mit real-time updates (um die absolute „freshness“ zu garantieren) ist der Juicero, nun ja, eine Saftpresse. Allerdings eine Saftpresse, die nicht beliebiges Obst auspresst, sondern nur spezielle Obstmus-Beutel, die man praktischerweise beim Hersteller auch gleich mitbestellen kann. Ein Beutel ergibt ein Glas und ein Beutel kostet 6-7 $, was preislich gut zum Anschaffungspreis des Juiceros von 400 $ passt. Zumindest in der Adressierung der Zielgruppe (reiche Leute) macht der Hersteller damit alles richtig. Blöd ist nur, dass sich auch in der Zielgruppe herumgesprochen hat, dass man die Tüten auch einfach aufschneiden und per Hand in ein Glass pressen kann – mit dem gleichen Ergebnis. Wer doch noch über die Anschaffung des Juiceros nachdenkt, dem sei der sehr unterhaltsame Erfahrungsbericht von Mark Wilson empfohlen.

Kundenbindungsmaßnahmen haben bei Unternehmen meist oberste Priorität. Doch wie erreicht man seine internetaffinen und sozial aktiven Nutzer?

Vielleicht durch den Aufbau eigener sozialer Netzwerke? Gleich bei mehreren Projekten, die wir begleiten durften, kam diese Idee auf:

Praxis-Beispiel gefällig?

Stellen Sie sich vor Ihre Bank würde Ihnen als neuen Service anbieten, dass Sie sich in der Money-Group anmelden. In der Money-Group können Sie mit anderen Bankkunden chatten und mit ihnen Online-Spiele spielen. Nicht interessiert? Die Teilnehmer aus unseren Befragungen sahen es ähnlich. Wozu sollte man diesen Service nutzen, wenn man für den gleichen Effekt seine echten Freunde auf Facebook treffen kann? Stellen Sie sich vor, Ihre Waschmaschine würde es Ihnen ermöglichen, mit Ihren Freunden, die das gleiche Waschmaschinen-Modell haben, über die Maschine Nachrichten auszutauschen. Und nicht nur das, Sie würden auf Ihrer Waschmaschine auch angezeigt bekommen, wann welcher Freund gerade etwas darin wäscht und in welchem Waschgang. Eine tolle Informationen, die Ihnen schon immer gefehlt hat? Wahrscheinlich nicht. So zumindest bewerteten es die Testteilnehmer, die zum Nachrichten versenden doch lieber WhatsApp, SMS etc. nutzen wollten. Im ersten beschriebenen Fall kam die Information in einer frühen Produktentwicklungsphase und so konnte das Projekt rechtzeitig abgebrochen werde ohne große Verluste. Im zweiten Fall wurde das Feedback der Nutzer leider sehr spät eingeholt, als das Produkt quasi schon verkaufsfertig war. Viel Zeit und Geld war aufgewendet worden, sodass es schwer fiel das Projekt einzustampfen. Möglichst früh Nutzerfeedback durch user research & testing abholen lohnt sich!

Fail 2: Produkte, die nicht zum Nutzer passen

Funktioniert Google Glass?

Seit 2014 können Verbraucher in den USA Google Glass erwerben. Quelle: Wikipedia

Es ist beruhigend zu sehen, dass manchmal auch die Großen scheitern. Mit Google Glass hat es Google geschafft. Warum das Produkt floppte, wird nach wie vor leidenschaftlich diskutiert und es werden viele Faktoren genannt: vom fehlenden offiziellen Verkaufsstart, über die fehlenden Antworten auf Datenschutz und Privacy-Fragen bis hin zu der Tatsache, dass man mit diesem smarten Device auf der Nase nicht wirklich smart aussieht. Einer der wichtigsten Gründe für den Verkaufsflop aber dürfte der sein, dass Google Glass für das angepeilte Zielpublikum (B2C) keinen richtigen Mehrwert bietet. Eine gute User Research hätte dies schon in Ansätzen erkennen können und zu einer Veränderung entweder des Produktes und seiner Funktionen oder auch in der Änderung im Zielpublikum führen können. Vielleicht feiert Google Glass auch nochmal seine Wiedererweckung, wenn Fachnutzer mit einem überzeugenden Anwendungsfall adressiert werden.

Wir durften auch einmal einen ziemlichen Produktflop miterleben. Zu unserer Verteidigung: wir wurden erst am Schluss zum Testen dazu geholt. Der Kunde stellte eine Verwaltungssoftware her für Groß- und Kleinbetriebe, die jeweils ziemlich spezifische und vor allem heterogene Anforderungen an die Software hatten. Auf unsere Nachfrage, ob denn auch ausreichend User Research mit beiden Nutzergruppen durchgeführt wurde, wurde versichert, dass man alles über die Nutzer wisse. Beim Sichten der Software kamen bei uns erste Zweifel auf und spätestens beim Usability-Test wurde klar, dass die Software nicht zu den Nutzern passte. Die Teilnehmer aus beiden Gruppen verstanden die Software in großen Teilen nicht, vermissten für ihre Arbeit wichtige Funktionen und bewerteten vorhandene Funktionen als überflüssig. Keiner der Teilnehmer hätte diese neue Software gekauft. Im Nachhinein klärte sich dann noch ein wichtiges Detail – die User Research hatte nicht mit echten Nutzern, sondern nur mit Support-Mitarbeitern des Software-Herstellers stattgefunden.

Fail 3: Produkte, die Kultur und Sprache nicht berücksichtigen

Manchmal wird die Recherche zu einzelnen Nutzergruppen vernachlässigt, manchmal die Recherche zu einem gesamten Absatzmarkt. Werden Kultur und Sprache eines Marktes nicht berücksichtigt, können sich besonders schöne Fail-Perlen bei Produkten und Marketingmaßnahmen ausbilden. So geschehen bei Heineken, die in einer Werbekampagne im Rahmen der Fußball-WM94 Flaggen der teilnehmenden Länder auf Flaschen-Etikette drucken ließen. Unter anderem auch die Flagge von Saudi-Arabien, auf der das Glaubensbekenntnis des Islams abgebildet ist. Auch ohne einen Islamwissenschaftler im Team, hätte die Macher der Kampagne mit wenig Rechercheaufwand das Alkoholverbot im Islam in Erfahrung bringen und den anschließenden Disput mit muslimischen Glaubensvertreter vermeiden können. Neben dem Glauben, sollte auch der Aberglauben in manchen Kulturen adressiert werden. Flugzeugbauer verzichten daher für europäische und amerikanische Fluglinien manchmal auf eine 13. Und 17. Sitzreihe, bei asiatischen auf die 4. oder 39. Sitzreihe – entsprechend der dortigen Unglückszahlen. Ein Hersteller für Golfbälle ignorierte den Zahlenaberglaube und floppte am japanischen Markt, als er Golfbälle im Viererpack anbot (die Zahl 4 klingt im Japanischen ähnlich dem Wort für „Tod“ und ist mit großem Unglück verknüpft).

Ein Beispiel für fragwürdige Autonamen – der iMiEV von Mitsubishi. Quelle: Wikipedia

Auch bei Produktnamen hilft ein Blick in die Wörterbücher der jeweiligen Absatzmärkte. So nicht geschehen beim Audis Elektroauto-Reihe e-tron, die im französischen Raum Verkaufsprobleme haben sollte („étron“ = „Kothaufen“) und ebenso Toyota mit seinem Model MR2 (ausgesprochen „merde“ = „Scheiße“). Mein Lieblingsbeispiel für eine Verfehlung auf dem deutschen Markt ist Mitsubishis Elektrokleinwagen i-MiEV.

Bei unseren Kunden im eCommerce tauchen Kulturprobleme häufig bei den Zahlungsmethoden auf. Die Konversionsrate in neuen Märkten fällt schlecht aus und bei der Analyse zeigt sich, dass die landesüblichen Zahlungsmethoden nicht angeboten werden. So fehlt britischen Kunden in deutschen Online-Shops oft die in Groß Britannien übliche Option „debit card“, französischen Kunden die „carte bleue“.

Fazit

Klar, auch gute Research ist kein Garant für den Erfolg eines Produktes. Nur weil man den Markt und seien Nutzer verstanden hat, entwickelt man nicht automatisch erfolgreiche Produkte. Und wenn man sich ungefiltert an den Wünschen und Aussagen der Nutzer richtet, entsteht keine Innovation. Trotzdem stellt User Research den Grundpfeiler dar, um ein Verständnis seiner Nutzer zu schaffen und darauf aufbauend eigene passende Lösungsideen zu entwickeln.

Übrigens: Für das zu Beginn des Textes aufgeführte Zitat von Henry Ford gibt es keine historischen Belege. Was er aber tatsächlich gesagt haben soll:

    “If there is any one secret of success, it lies in the ability to get the other person’s point of view and see things from that person’s angle as well as from your own.”

Henry Ford war also wahrscheinlich doch ein Freund von User Research …

Portraitfoto: Marie Jana Tews

Marie Jana Tews

Senior User Experience Consultant

Alumni-eresult GmbH

Bisher veröffentlichte Beiträge: 8

Ein Kommentar

  • Kathrina

    Ich komme zwar aus einem anderen Bereich (Werbung) aber auch hier merkt man of das Kunden keinen Plan von ihrer Zielgruppe haben und auch keinen von der Konkurrenz. Jeder hat eine Idee/ein Produkt aber keiner will sich richtig die Mühe machen und mal ordentlich recherchieren. Wehe man schlägt das dann vor, das will einem dann auch keiner bezahlen. Ich verstehe das nicht aber es ist deren Geld das in den Sand gesetzt wird.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert