Human Centered Design – konsequent gedacht

Ein Ruder-Team im Boot von oben fotografiert.

Wie oft sind Sie schon aus dem Zug ausgestiegen mit der impliziten Frage: „Wo muss ich denn jetzt eigentlich hin?“ und sind dann erst einmal in die falsche Richtung gelaufen? Mir geht dies sogar am Frankfurter Flughafen, an dem ich sehr oft zwischen Regionalbahnhof und Fernbahnhof umsteige, so. Und das, obwohl ich mich dort (so meine Selbsteinschätzung) doch sehr gut auskenne. Warum kann ich mich dort dennoch so schlecht orientieren? Wenn ich aussteige, muss ich erst die Wegweiser suchen, auf denen steht, wo diejenige Treppe ist, mit der ich am schnellsten zum anderen Bahnhof komme. Meistens laufe ich in die falsche Richtung, sehe an der einen Treppe, dass ich falsch bin und drehe um bzw. laufe einen Umweg. Auf dem Bahngleis direkt an der Ausstiegsstelle sind mir diese Informationen nicht verfügbar und anhand der sehr einheitlichen Gestaltung des Bahnhofs kann ich mich schwer orientieren.

Man merkt, wenn bei der Gestaltung MIT dem späteren Benutzer zusammengearbeitet wird!

Eine Überraschung erlebte ich dann in bei meinem ersten Besuch in London vor ein paar Jahren: Obwohl ich dort das erste Mal mit der Tube unterwegs war, konnte ich mich in den U-Bahnhöfen super orientieren. Immer, wenn ich mich gefragt, habe „Welchen Aufgang oder welche Treppe muss ich denn jetzt nehmen um zur Bahn Richtung [XYZ] zu kommen?“ war direkt die passende Information an dieser Stelle im Bahnhof an einer Wand angebracht. Ich hatte selbst an einer der größten Bahnstation an keiner Stelle das Gefühl, mich zu verlaufen oder mich nicht auszukennen.

Warum erzähle ich nun diese Geschichte?

Für mich ist UX Consultant nicht nur ein Beruf, sondern eine Berufung. UX ist für mich auch kein Add-On für ein Produkt, das man am Ende mit dazu packt. UX und nutzerzentriertes Denken ist ein ganzheitlicher Ansatz. Inspiriert hat mich dazu ein Telefonanruf eines UX Interessierten. Dieser lief in etwa wie folgt ab:

  • Anrufer: „Hallo, wir sind ein Unternehmen, welches sich auf die Entwicklung von Frontend spezialisiert hat. Wir möchten jetzt auch UX machen – können Sie uns da eine 1-Tages-Schulung anbieten?“
  • Ich: „Hallo, ja, das können im Prinzip machen. Welche Erfahrung haben Sie denn bisher mit Usability und UX? Und haben Sie schon ein bis zwei Themen, die in jedem Fall in der Schulung vertieft werden sollen?“
  • Anrufer: „Erfahrung haben wir noch gar keine, wir würden gerne lernen, wie eine gut zu bedienende Nutzeroberfläche aussehen soll, damit wir eine gute UX erreichen.“

Die meisten der Leser denken nun: Klassisches Problem – >UX ist nicht UI. Ja, auch. Aber ich finde, das Problem geht noch vielschichtiger:

      1) Strategie, nicht Feature: UX ist nichts, was man schnell lernt und in sein Produkt „mit reinnimmt“, wie eine zusätzliche Funktion.
      2) Was viele nicht wissen: UX funktioniert nicht ohne den ECHTEN Nutzer.
      3) Wir sind uns selbst nicht einig: UX wird unterschiedlich definiert – mal als Prozess, mal als Endpunkt eines Prozesses – wie sollen da Externe wissen, was es nun ist?
      4) Keine One-Man-Show: UX ist interdisziplinär und erfordert kollaboratives Arbeiten vieler Disziplinen und Abteilungen.

Die Definition und Auffassung von User Experience (UX)

Der Begriff „UX“ wird (in meinen Augen) im allgemeinen Sprachgebraucht nicht konsequent zu Ende gedacht und wird je nach Autor / Land / Anrufer / … auch unterschiedlich definiert. Hier zwei Beispiele:

UX als Prozess

“UX is the process of enhancing user satisfaction with a product by improving the usability, accessibility, and pleasure provided in the interaction with a product.” (Costin Iorgulescu, 2018, This is NOT User Experience)

UX als Artefakt / Benutzerempfinden

Die Wahrnehmungen und Reaktionen eines Benutzers, die sich aus der Benutzung und/oder der erwarteten Benutzung eines interaktiven Systems ergeben. (ISO 9241-210)

Was hier als Prozess beschrieben wird, kennen wir im deutschsprachigen Raum eher als den HCD-Prozess (Human Centered Design Prozess / menschzentrierte Entwicklung). Die Grundsätze sind die gleichen, womit der Begriff „UX“ eigentlich immer mehr ein Synonym für den HCD wird: Nicht nur an den (späteren) Benutzer denken, sondern ihn durch verschiedenste Methoden direkt und indirekt mit einbeziehen (im Vorfeld, während der Konzeption & Entwicklung, im Nachgang), um bei der Benutzung das bestmöglichste Erlebnis zu schaffen.

User Experience ist damit grob gesagt Prozess und Ergebnis zugleich. Wenn wir also sagen „Produkt XYZ hat eine gute UX“, ist damit für mich nicht nur die summative Messung des tatsächlichen Erlebnisses gemeint, sondern die gesamte menschzentrierte Entwicklungsstrategie, die uns zum Produkt geführt hat.

UX – U = X (where “X” now means “don’t do it”)

Wie die NNGroup so schön schreibt: „User experience cannot exist without users“. Und da gebe ich den Autoren 100% Recht. Essentiell bei dieser Einstellung ist jedoch das Hintergrundwissen, wie man gute UX erreicht. „Nutzer sind keine Entwickler, Designer, Konzepter, …“. Wir als Beteiligte am Produktenwicklungsprozess müssen mit verschiedensten Methoden herausfinden, wie das „Warum“, „Was“ und „Wie“ bei der Benutzung des Produktes / Services aussehen (können).

Und das geht nicht ohne die Nutzer zu befragen, zu interviewen, zu beobachten. Ein explizites Verständnis der Hintergründe und Bedürfnisse (Erfordernisse) ist also unausweichlich – mit der entsprechenden Interpretation. Durch die direkte, intensive Auseinandersetzung mit den tatsächlichen Nutzern (und Stakeholdern) und die Aggregation und Interpretation der Daten (z. B. gegossen in Nutzungsanforderungen, User Stories, Usability Probleme, positive Befunde, …) erreichen wir die maximale User Experience bei der Entwicklung unseres Produktes.

UX kann nicht durch eine Person erreicht werden, UX muss im Unternehmen gelebt werden

Ein Kernpunkt, der im HCD / bei der Etablierung von UX-Prozessen & Strategien immer wieder deutlich wird, ist das iterative Vorgehen und die Einbeziehung aller Stakeholder. Entwickler, Programmierer, Product Owner, Visual Designer, Researcher, Interaktionsdesigner, Konzepter, Marketing, Vertrieb, Management, … – alle haben ein Interesse am Produkt. Nutzen wird es aber letztendlich der Benutzer. Um ein erfolgreiches Produkt für alle Seiten zu kreieren, müssen wir alle mit an Bord holen – mit verschiedensten Mitteln.

Nutzerzentrierte Entwicklung und damit gute UX für alle Beteiligten ist eine strategische Entscheidung, welche die Fehlerkultur und Mentalität im Unternehmen stark beeinflusst. In dem ich mich als Person und Unternehmen dazu bereiterkläre, schon in frühen Entwicklungsstufen meine (unfertigen) Arbeitsergebnisse (identifizierte Bedürfnisse, Scribbels, Mockups, Prototypen, …) anderen Personen und sogar dem späteren Nutzer zu zeigen, bin ich bereit, Feedback (auch negative) anzunehmen und noch einmal neu / anders anzufangen. Ist eine solche Fehlerkultur in einem Unternehmen nicht gegeben, wird auch die UX darunter leiden.

Durch die Zentrierung auf den Nutzer werden – konsequent gedacht – ganze Prozesse menschzentrierter und die Teamarbeit damit intensiver. So kann man sich diese und viele weitere Fragen stellen:

  • Ist mein Bericht, den der Kollege zur braucht, auch so formuliert und strukturiert, dass es für ihn ohne unnötigen Aufwand möglich ist, damit weiterzuarbeiten? Oder ist es sogar sinnvoller, den Kollegen schon früher mit einzubeziehen?
  • Sind unsere Dienstleistungen in den Angeboten so dargestellt, dass sowohl der Einkauf als auch der Empfänger wissen, was enthalten und nicht enthalten ist?
  • Bevor ein kompletter Arbeitsablauf / Prozess manifestiert wird: Ist dies für alle Beteiligten verständlich und nachvollziehbar? Gibt es Komplikationen, an die nicht gedacht wurde, die aber nur den Beteiligten auffallen können?

UX erfolgreich integrieren – ad hoc-Lösungen vermeiden: Reifegradmodelle & UX Strategie

UX ist also nichts, was eine Person alleine leisten kann und die dem Produkt wie ein weiteres Feature hinzugefügt werden kann. UX (Design) ist eine Strategie sowie Kultur – und für mich auch Lebenseinstellung -, welche dem menschzentrierten Ansatz folgt. Und das ist eine große Herausforderung.

UX Reifegradmodelle (UX Maturity) sowie daraus abgeleitete Empfehlungen geben Hinweise, wie man den menschzentrierten Ansatz ins Unternehmen bringen und vorantreiben kann. Die Integration von UX im Unternehmen ist ganzheitlich im Sinne von Change-Management zu sehen. Denn es werden nicht nur einzelne Methoden oder Checklisten-Punkte in der Qualitätssicherung eingeführt, sondern das komplette Denken & die Arbeitsweise müssen hierfür umgestellt werden.

Um UX nachhaltig im Unternehmen zu etablieren, braucht es eine Vision sowie die Analyse der wichtigsten Säulen: Aktuelle Prozesse, Personen & vorhandene Tools. Das folgende Schaubild aus einem unserer Kundenprojekte zeigt dies beispielhaft:

Um einen ersten Anfang in Sachen UX Integration zu machen, empfiehlt sich ein UX Strategie Workshop, in dem ein (externer) Experte gemeinsam mit dem Kernteam, welches UX verankern wird, die Ist-Situation analysiert, den Reifegrad identifiziert sowie Hürden herausarbeitet, die dem UX-Wachstum im Wege stehen. Ausgehend davon wird die Strategie iterativ und in Zusammenarbeit mit den Beteiligten erarbeitet.
Der Aufmerksame Leser merkt: Die Einführung von UX im Unternehmen geschieht auch menschzentriert: Grundlegendes Verständnis der Zielgruppe und des Problemfeldes, gemeinsame Erarbeitung / Evaluierung der Erkenntnisse, iterative Herausarbeitung der Vorgehensweise.

Mein Tipp: Mit dem Kleinen anfangen, Profis mit dazu holen und nichts überstürzen!

Wer noch mehr lesen möchte: Meine Kollegin, Joanna Oeding war dieses Jahr bei Jared Spool auf einem UX Strategy Workshop – interessierte Leser finden hier mehr.

Portraitfoto: Melanie Wieland

Melanie Wieland

Digital Researcher

cosnova GmbH

Bisher veröffentlichte Beiträge: 8

3 Kommentare

  • Der Begriff „UX“ wird auch (in meinen Augen) im allgemeinen Sprachgebraucht nicht konsequent zu Ende gedacht..

  • Thorsten Wilhelm

    Vielen Dank für diesen wichtigen Beitrag.

    Ich musste beim Lesen immer wieder an mein Studium der BWL denken.
    Damals, 1990, lehrte man uns, dass Marketer die besseren Unternehmensführer sind.

    Kundenorientierte Unternehmensführung – Viele Marketing Professor und Praktiker haben in den 80er und 90er Jahren genau dafür geworben, Vorzüge verdeutlicht und Erfolge erzielt.

    Ich hoffe viele Unternehmen erkennen, wie eng beieinander beide Professionen (UX & Marketing) sind und lernen voneinander.

    Dann bekommen wir bald immer mehr UX-driven Companys. Auch und im Besonderen in Deutschland.

  • Sebastian Feige

    Danke für den guten und vor allem emotionalen Artikel — man merkt, dass Dir das Thema eine Herzensangelegenheit ist! 🙂

    Besonders interessant fand ich die Darstellung von drei Säulen. Ich habe hier vor Beginn einer langfristigen, großen Initiative zur Erhöhung des UX-Reifegrads ebenfalls „Säulen“ identifiziert, die die Basis/Notwendigkeit für das große Ziel bilden.

    Die von mir identifizierten Säulen: Wille, Organisation, Expertise, Mittel, Kultur .

    Die Kultur hast Du im Artikel ja selbst angesprochen. Neben entsprechender Fehlerkultur gehören für mich hier auch Dinge hinein wie die Beantwortung der Frage, wie und woran Erfolg gemessen wird (Outcome statt Output belohnen), wie Ziele gesetzt werden (Team statt Individual) und wie eigenverantwortlich Entscheidungen getroffen werden können.

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