Zur Bedeutung von ›Narrative UX‹: Warum wir in Erzählform entwickeln und gestalten müssen
In der digitalisierten Welt ist der Mensch ständig mit einer Überfülle an Informationen konfrontiert, die er kognitiv verarbeiten und strukturieren muss. Um aus diesem Rauschen relevante und irrelevante Informationen zu filtern und Komplexität zu reduzieren, hat das menschliche Gehirn einen geschickten Trick entwickelt: Es wandelt jeden Input in Storylines um und überführt somit das Wahrgenommene in eine organisierte Struktur. Das menschliche Denken funktioniert nämlich maßgeblich in narrativer Form, also in Form von Stories, Skripten oder Erzählungen. Narrative Strukturen sind unser angeborenes, primäres Werkzeug, uns die Welt anzueignen und jede Art von Erfahrung und Wissen zu ordnen. Der Mensch ist von Natur aus ein Homo narrans, also ein Wesen, das sich die Welt in Erzählform erschließt.
Das menschliche Hirn wandelt Informationen in narrative Form um
Jede in narrativen Mustern strukturierte Information ist für uns daher nicht nur am leichtesten zu verstehen, sondern auch am besten zu merken. Denn auch unser Gedächtnis ist so programmiert, dass es Handlungsabläufe, Muster oder Plots abspeichert. Durch diese kognitiv programmierte Logik kleiner ›Erzählungen‹ werden Gewohnheiten, Mindsets oder mentale Systeme im Kopf erschaffen. Auch wenn etwas gar nicht kausal miteinander verbunden ist, formt unser Kopf es für sich um und macht gewissermaßen eine Geschichte daraus. Der Historiker Hayden White nennt diese von Individuen als auch Kulturen ständig durchgeführte Aktivität ›Emplotment‹.
Aufgrund dieser anthropologischen Tatsache sind all diejenigen digitalen Produkte am erfolgreichsten, die in eine implizite Storyline eingegossen sind. Ein gutes UX Design nimmt den User an die Hand und führt ihn durch eine Geschichte wie ein guter allwissender Erzähler. Eine gute Geschichte zeichnet sich aus durch die richtige Mischung aus Bekanntem und Unbekanntem, soll gleichzeitig spannend und deskriptiv sein, aber wenn sie leicht lesbar sein will, darf sie den Handlungsbogen in ihren Ausführungen nie aus den Augen verlieren. Zur Inspiration können wir uns an die guten alten Adventure Games erinnern, in denen wir einen Charakter durch zauberhafte Welten und eine zu entschlüsselnde Geschichte navigiert haben, immer auf der Suche nach neuen Clues, die ein Ereignis auslösen und die Story weiterführen.
UX Design muss den User durch eine Geschichte führen wie ein guter Erzähler
Zu den basalsten Kriterien des Erzählens gehören dabei zum einen Selektivität sowie zum anderen Segmentierung und Sequentialität. Das heißt im ersten Schritt (Selektivität), aus der Fülle des Möglichen müssen zuallererst Elemente wohlüberlegt ausgewählt werden, die dargestellt und dann zueinander in Verbindung gesetzt werden. Bezogen auf UX bedeutet das, dass ich nicht alles darstellen sollte, was dargestellt werden könnte, weil der User sonst die Storyline aus den Augen verliert und sich verirrt. Viele Wege führen leider nicht immer ans Ziel, sondern verwirren. Im zweiten Schritt geht es darum, diese Bausteine meiner Story so anzuordnen, dass sie effektiv aufeinander verweisen: Ich als digitaler Erzähler meiner Webgeschichte möchte diese Elemente in ein referenzielles System zusammenfügen und dadurch Sinnhaftigkeit entstehen lassen. Dadurch bilden wir Episoden, die Ereignisse auf meiner Webseite in Kohärenz einbinden und dadurch Handlung der User ermöglichen. Die wichtigste Funktion von Geschichten ist die Erschaffung von Sinn: Sinn ist nichts anderes als eine Reduktion von Komplexität durch die Verringerung von Anschlussmöglichkeiten. Logik wird erzeugt, indem nur noch wenige Anschlusshandlungen folgerichtig sind und Sinn machen.
Narrative UX heißt auch: Wort und Design müssen als Einheit gedacht werden
Um meine Webanwendung zu einem guten Erzähler zu machen, der meine User durch eine Geschichte führt, ist aber nicht nur die Ebene von Grafik und Design entscheidend. Gleichermaßen wichtig – und oft unterschätzt – ist die Ebene der Sprache, die den User durch die Seite leiten muss. In der narrativen Komposition der Webanwendung generieren Texte und Worte Bedeutungen und entfalten Verweisungskraft, wenn sie denn gut gewählt sind. Sämtliche sprachliche Elemente wie Benennungen, Beschreibungen, Erklärungen, alle Elemente des Wordings sind keine nebensächlichen Labels, sondern verschmelzen in der Wahrnehmung der User mit dem Designelement zu einer – mehr oder weniger sinnvollen – Einheit. Wer daher im Designprozess bis zum Ende mit Lorem Ipsum arbeitet, hat die User Story, die hier erzählt werden soll, vergessen. Stattdessen beschreibt er seit fünfzig Seiten, wie schön das Dorf ist, in dem sich eine noch nicht definierte Handlung des begonnenen Buches abspielen soll. Designelemente und Sprache sollten vor dem Hintergrund des Verständnisses von Narrative UX Hand in Hand gehen.
Bei der Gestaltung von Webseiten muss daher schon in der Entwicklung in Narrativen gedacht werden. Welche Geschichte erzählen diese Webseite und dieses Produkt einerseits und welche User Story spielt sich andererseits auf ihr ab? Dafür muss auf einer ganz praktischen und greifbaren Ebene mit Storylines, Product Stories, User Journeys usw. gearbeitet werden. Am Beginn jeder digitalen Produktentwicklung sollten simple Narrative stehen, aus dessen Erzählstruktur heraus die Anwendung entworfen, ausgestaltet und seine Geschichte zum Leben erweckt wird.
Literatur
Bartlett, Frederic C.: Remembering: a study in experimental and social psychology, New York 1995.
Bruner, Jerome: The Narrative Construction of Reality. In: Critical Inquiry, Nr. 18, 1991.
Currie, Gregory; Jureidini, Jon: Narrative and Coherence. In: Mind & Language, 2004, Nr. 4 (19), S. 409-427.
Ghosh, Vanessa E.; Gilboa, Asaf: What Is a Memory Schema? A Historical Perspective on Current Neuroscience Literature. In: Neuropsychologia (53) 2014, S. 104–114.
Koschorke, Albrecht: Wahrheit und Erfindung: Grundzüge einer allgemeinen Erzähltheorie, Frankfurt a. M. 2012.
Labov William; Waletzky, Joshua: Narrative analysis. In: Helm, June (Hg.): Essays on the Verbal and Visual Arts, Seattle 1967, S. 12-44.
Niles, John D.: Homo Narrans: The Poetics and Anthropology of Oral Literature, Philadelphia 2010.
White, Hayden: The Content of the Form: Narrative Discourse and Historical Representation, Baltimore 1990.
Vielen Dank. Ich habe viele nützliche Informationen aus diesem Artikel gelernt. Die Fähigkeit, Ihre Gedanken freundlich schriftlich auszudrücken, ist einer der wichtigen Aspekte bei der Entwicklung.