Das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz – Welche Herausforderungen und Chancen erwarten UX Professionals ab 2025?

Aufgeklappter Laptop auf einem Holztisch zeigt den Satz "I design and develop experiences that make people´s lives simple."

Durch das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) 1 (als Umsetzung des European Accessibilty Act) wird digitale Barrierefreiheit für Unternehmen verpflichtend gemacht. Diesem Gesetz nach müssen bestimmte Produkte und Dienstleistungen, die ab2025 in den Verkehr gebracht werden, „für Menschen mit Behinderungen in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe auffindbar, zugänglich und nutzbar“ sein.

Doch was genau bedeutet das für die betroffenen Unternehmen – bspw. für die (weiter-) Entwicklung von Onlineshops oder Bankautomaten? Zwangsläufig müssen diese in der Zukunft dem Gesetz nach als barrierefrei nutzbar entwickelt werden. Wenn dies noch nicht der Fall ist, entsteht ggf. beachtlicher Aufwand dabei, die anstehenden Anforderungen umzusetzen. Auf der anderen Seite ermöglichen die Umsetzung des BSFG und der daraus folgende barrierefreie Zugang zu Produkten und Dienstleistungen für alle eine leichtere Nutzung und für viele ggf. erst die Nutzung überhaupt.

Mein Beitrag hat das Ziel, einen Einblick zum BFSG im Kontext von digitaler Barrierefreiheit und Usability zu geben, indem er sich mit folgenden Fragen beschäftigt:

  1. Worum handelt es sich bei dem BSFG und wen betrifft es?
  2. Was bewirkt das BFSG?
  3. Wie ist der Status quo hinsichtlich digitaler Barrierefreiheit?

Worum handelt es sich bei dem Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG)und wen betrifft es?

Das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz soll fehlender Barrierefreiheit von Produkten und Dienstleistungen entgegenwirken und „für Menschen mit Behinderungen ihr Recht auf Teilhabe am Leben in der Gesellschaft [stärken]“.

Das BFSG wurde Ende Mai 2021 zur Umsetzung des European Accessibility Act (EAA)2 in Deutschland erlassen.

Mit dem Gesetz werden Bereiche des wirtschaftlichen Sektors verpflichtet, bestimmte Produkte und Dienstleistungen, die nach dem 28. Juni 2025 in den Verkehr gebracht bzw. erbracht werden barrierefrei zu gestalten3. Dies betrifft:

Produkte:

  • Hardware- und Betriebssysteme
  • Bestimmte Selbstbedienungsautomaten (u.a. Fahrkarten-/ Check-in Automaten)
  • Endgeräte für Telekommunikations-/ audiovisuelle Dienste (bspw. Smartphones, Fernsehgeräte)
  • E-Book Reader

Dienstleistungen:

  • Telekommunikationsdienste
  • Personenbeförderungsdienste
  • Bankdienstleistungen
  • E-Books
  • E-Commerce

„Barrierefrei gestaltet“ bedeutet für die Produkte und Dienstleistungen laut BFSG „sie für Menschen mit Behinderungen in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe auffindbar, zugänglich und nutzbar“ zu machen.

Aber was genau bedeutet das ab 2025 für mein Unternehmen bzw. für meine Produkte und Dienstleistungen? Das ist zu dem jetzigen Stand noch nicht im Detail klar. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales wird die entsprechende Rechtsvorordnung jedoch noch diesen Sommer veröffentlichen4.

Die Bundesfachstelle Barrierefreiheit stellt auf ihrer Webseite5 zum BFSG und zu der folgenden Verordnung unterstützendes Material zur Umsetzung für Unternehmen bereit und kann zur Beratung kontaktiert werden. (Der Beratungsschwerpunkt liegt jedoch auf Kleinstunternehmen.)

Was bewirkt das BFSG?

Keine Barrieren um Ziele effektiv, effizient und zufriedenstellend erreichen zu können – Stichwort Usability

Die Definition von Usability nach der ISO Norm ist „das Ausmaß, in dem ein Produkt durch bestimmte Nutzer in einem bestimmten Nutzungskontext genutzt werden kann, um bestimmte Ziele effektiv, effizient und zufriedenstellend zu erreichen.“ (DIN EN ISO 9241).

Abbildung 1 Beispiele für permanente, temporäre und situationsbedingte Einschränkungen (Spalten) beim Fühlen, Sehen, Hören und Sprechen (Zeilen).

Der European Accessibilty Act und das BFSG zielen primär darauf ab, die oben beschriebenen Bereiche für Menschen mit Behinderungen leichter zugänglich zu machen. In Deutschland leben rund 7,9 Millionen (2019) Menschen mit schweren Behinderungen6 für welche die Beachtung von Barrierefreiheit die Usability stark erhöhen und ggf. eine Nutzbarkeit der Produkte und Dienstleistungen erst ermöglichen kann.

Neben dauerhaften Einschränkungen durch Behinderungen gibt es temporäre oder situative Einschränkungen, bei welchen das Gesetz ebenso effektiv sein kann. Abbildung 1 visualisiert diese Unterscheidung mit Beispielen für Einschränkungen beim Fühlen, Sehen, Hören und Sprechen.

So kann eine Person bspw. eine Sehbehinderung haben, eine vorübergehende Seheinschränkung oder etwas während dem Fahren eines Fahrzeuges nutzen. In allen drei Fällen ist die visuelle Wahrnehmung eingeschränkt.

Barrierefreie Gestaltung unterstützt dementsprechend dabei, dass Nutzende ihre Ziele in möglichst vielen Fällen effektiv, effizient und zufriedenstellend erreichen können.

Barrierefreie Gestaltung unterstützt dementsprechend dabei, dass Nutzende ihre Ziele in möglichst vielen Fällen effektiv, effizient und zufriedenstellend erreichen können.

Wie ist der Status quo hinsichtlich digitaler Barrierefreiheit?

Barrierefreiheit am Beispiel von Webseiten

Im digitalen Bereich ist Barrierefreiheit bisher noch nicht unbedingt ein großes Thema. Das sieht man beispielsweise im Fall von Webseiten:

Die unten stehende Grafik (Abbildung 2) bezieht sich auf die Majestic Million Websites7. Bei diesen Webseiten handelt es sich um die (eine millionen) meist verwiesenen Webseiten. An den ersten Stellen findet sich momentan beispielsweise Google.com, Facebook.com und Youtube.com. Für die Majestic Million Webseiten ist in der Grafik angegeben, wie hoch der Anteil (in %) bestimmter WCAG (Web Content Accessibility Guidelines -Richtlinien zu Barrierefreien Webinhalten) Anforderungen ist, die nicht erfüllt werden.

Abbildung 2 Anteil der Majestic Million Websites, nach WCAG Fehlern.

Daraus lässt sich beispielsweise folgendes ablesen: 86% der Majestic Million Websites sollen laut Statista schwache Textkontraste beinhalten. Textkontraste haben einen Einfluss auf die Lesbarkeit der Inhalte und können mit oder ohne Seheinschränkungen zu Usability Problemen führen. Vielleicht kennen Sie beispielsweise die Herausforderung, hellgraue Schrift auf weißem Hintergrund zu lesen. Abhängig vom Kontrast kann dies sehr anstrengend und folglich schlicht ineffizient und ggf. wenig zufriedenstellend sein, mit und/oder ohne Seheinschränkung.

Abbildung 3 Veranschaulichung der Lesbarkeit bei unterschiedlichen Kontraste. Der Text sagt "Wenn sich der Hintergrund nicht ausreichend von der Textdarstellung unterscheidet verschlechtert dies allgemein die Lesbarkeit. Mit einer entsprechenden Einschränkung kann es sein, dass der Text ohne weiteres gänzlich unlesbar wird – Das ist sehr ärgerlich, oder?"
Abbildung 3 Veranschaulichung der Lesbarkeit bei unterschiedlichen Kontraste.

Exkurs: Die Rechtsverordnung für digitale Barrierefreiheit bei öffentlichen Einrichtungen

Die gesetzliche Verpflichtung zu digitaler Barrierefreiheit wie im BSFG ist in Deutschland nicht neu – seit 2016 gilt das Behindertengleichstellungsgesetz (BGG)8, welches bereits öffentliche Einrichtungen verpflichtet, die Kommunikation barrierefrei zu gestalten. Das Gesetz gilt für öffentliche Webauftritte, Intranets, Applikationen und die Vorgangsbearbeitung.

Hier wurde das Gesetz durch die „Verordnung zur Schaffung barrierefreier Informationstechnik nach dem Behindertengleichstellungsgesetz (Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung – BITV 2.0)“9 konkret umgesetzt. Die BITV gibt vor, dass (abgesehen von speziellen Ausnahmen) Webseiten, mobile Anwendungen, elektronische Verwaltungsabläufe und grafische Programmoberflächen „wahrnehmbar, bedienbar, verständlich und robust“ sein müssen (§3 (1)). Damit bezieht sich die BITV auf die international bekannten Web Content Accessibility Guidelines 2.110 (WCAG 2.1), in denen detaillierte Umsetzungsanforderungen zu finden sind.

Web Content Accessibility Guidelines

Wie genau die Webseiten bzw. Anwendungen dem BGG nach „wahrnehmbar, bedienbar, verständlich und robust“ gestaltet werden sollen, ist als Anforderungskatalog in den WCAG beschrieben. Die WCAG kategorisieren die Anforderungen in drei Stufen hinsichtlich ihres „Erfüllungsgrades“11 der Barrierefreiheit. „A“ kodiert dabei die Minimalerfüllung und „AAA“ das höchste Erfüllungslevel, wobei in einer höheren Stufe die jeweils niedrigeren Stufen enthalten sind. Für das BGG wird sich größtenteils an der Stufe AA orientiert, die die mittlere Stufe darstellt und über die Minimalerfüllung hinaus geht.

Fazit: Herausforderungen und Chancen

Mit dem BFSG wird auf viele Unternehmen im wirtschaftlichen Sektor ab 2025 eine gewisse Herausforderung zukommen, da neue Anforderungen an Produkte und Dienstleistungen hinsichtlich ihrer digitalen Barrierefreiheit gestellt werden. Die entsprechende Verordnung für die neu auf den Markt gebrachten Produkte und Dienstleistungen wird noch veröffentlicht. Hier sind noch einige Fragen zur konkreten Umsetzung, auch bspw. hinsichtlich der Marktüberwachung offen.

Das Beispiel der Majestic Million Websites zeigt, dass Anforderungen der digitalen Barrierefreiheit (nach den WCAG) noch nicht unbedingt umgesetzt werden. Die WCAG als Richtlinien zur Entwicklung barrierefreier digitaler Produkte können jedoch letztendlich die User Experience aller Nutzenden verbessern.

Eine Kampagne der Aktion Mensch besagt: „[…] Menschen haben keine Behinderung. Orte schon“12. Wenn wir Menschen dabei unterstützen möchten einen Höhenunterschied zu überwinden und eine Treppe gestalten, dann haben wir für viele Menschen statt einer Lösung eine (weitere) Barriere gestaltet.
Analog können auch digitale „Orte“ Menschen behindern. Digitale Barrierefreiheit bietet die Chance, Inklusion zu erhöhen und auch aus wirtschaftlicher Perspektive die Usability zu verbessern und die Gruppe der Nutzenden zu erweitern.


Quellen

1 BGBL – https://www.bgbl.de/xaver/bgbl/start.xav?startbk=Bundesanzeiger_BGBl&jumpTo=bgbl121s2970.pdf#__bgbl__%2F%2F*%5B@attr_id%3D’bgbl121s2970.pdf’%5D__1644907729976

2 Data Europa – http://data.europa.eu/eli/dir/2019/882/oj

3 Die Auflistung bietet nur einen ersten Überblick. Welche genauen Produkte und Dienstleistungen, bzw. welche Einschränkungen oder Ausnahmen dabei bestehen, ist im BFSG genauer beschrieben. Zudem besteht eine Ausnahme für Kleinstunternehmen, die Dienstleistungen anbieten mit weniger als 10 Mitarbeitenden und einem Jahresumsatz/einer Jahressummenbilanz von weniger als 2 Millionen Euro. Sie sind von dem Gesetz ausgenommen. Für sie werden Leitlinien erstellt und sie können sich zur intensiven Beratung an die Bundesfachstelle Barrierefreiheit wenden.

4 Bundesfachstelle Barrierefreiheit – https://www.bundesfachstelle-barrierefreiheit.de/SharedDocs/Kurzmeldungen/DE/rueckblick-konferenz-bfsg.html;jsessionid=182B635C5D62B9AA9CA49F096EB54336

5 Bundesfachstelle Barrierefreiheit – https://www.bundesfachstelle-barrierefreiheit.de/DE/Home/

6 Destatis – https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Gesundheit/Behinderte-Menschen/_inhalt.html

7 Majestic – https://de.majestic.com/reports/majestic-million

8 Gesetze im Internet – https://www.gesetze-im-internet.de/bgg/BJNR146800002.html#BJNR146800002BJNG000200000

9 Gesetze im Internet – https://www.gesetze-im-internet.de/bitv_2_0/BJNR184300011.html

10 Web Content Accessibility Guidelines – https://www.w3.org/TR/WCAG21/

11 Web Content Accessibility Guidelines – https://www.w3.org/WAI/WCAG21/Understanding/conformance

12 Page online – https://page-online.de/kreation/ortefueralle-neue-kampagne-der-aktion-mensch/


Beitragsbild: Ben Kolde | Unsplash


Portraitfoto: Julia Höß

Julia Höß

User Experience Consultant

eresult GmbH

Bisher veröffentlichte Beiträge: 1

Ein Kommentar

  • Hallo Frau Höß,
    vielen Dank für den informativen Artikel. Da kommt ja ganz schön was auf uns zu.

    Obwohl, wenn ich so darüber nachdenke, ist es eher erschreckend, wie weit wir bei dem Thema erst sind. Ich glaube, das Thema „Barrierefreies Internet“ verfolgt mich schon seit meiner Ausbildung zum Fachinformatiker Anfang der 2000er Jahre. Schaut man sich dann jetzt die oben genannte Statistik an, wird es aber höchste Zeit für das Gesetz, damit es überhaupt mal vorangeht.
    Viele Grüße
    Enrico Lauterschlag

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