Nutzer motivieren oder manipulieren – Gamification

Laptop, Controller, Kopfhörer, Smartphone und eine Pflanze auf einem Tisch.

Erfolgreiche Anwendungen oder Websites sind solche, bei denen die Nutzer das tun, was der Betreiber gerne möchte. Daher stoßen alle Ansätze auf großes Interesse, mit denen wir das besser erreichen.

Gamification ist ein solcher Ansatz, der vor einigen Jahren hoch gefeiert wurde. Heute ist es etwas still darum geworden – heißt das, Gamification als Möglichkeit, Nutzer zu motivieren, ist gescheitert?

Warum muss ich überhaupt motivieren?

Hinter vielen Anwendungen steht ein Interessenkonflikt: Der Betreiber will etwas anderes erreichen als der Nutzer. Der Betreiber einer Shopping-Site möchte natürlich möglichst viel Umsatz machen. Der Besucher will den günstigsten Preis.
Der Betreiber einer Medien-Site möchte, dass der Nutzer möglichst viel Werbung sieht und Links zu den Werbetreibenden klickt. Der Besucher will möglichst wenig Werbung sehen und dafür gute Inhalte.

Natürlich gibt es auch viele Fälle, in denen die Interessen ähnlich sind – eine App, die Nutzer dazu bringen will, gesünder zu leben etwa. Jeder, der schon mal eine Diät gemacht hat, oder versucht hat, regelmäßiger Sport zu treiben, weiß aber: Selbst wenn man die besten Absichten hat, die Umsetzung ist nicht immer einfach. Ein Motivationsschub kann hier viel bewirken.

Screenshot LinkedIn Gamification-Elemente

LinkedIn nutzt etliche Elemente, die man aus Spielen kennt: Status („Superstar“ rechts oben), Aufgaben („Mitglieder, die eine Ausbildungsstätte nennen, erzielen 7 Mal mehr Profilaufrufe“), Punkte („134 Kontakte“) und Fortschritte („Sie hatten in den letzten 30 Tagen 17% mehr Profilbesucher“).

Was ist Gamification genau?

Um das Thema Gamification (krude übersetzt mit „Verspielerung“) ging es schon mehrfach hier im Blog. Jan Pohlmann hat dazu eine immer noch sehr lesenswerte Artikelserie geschrieben: Gamification (1/4) – Grundlagen: Die Nutzer verstehen und durch indirekte Kontrolle lenken
Darin geht es um die Grundlagen wie auch um die praktische Umsetzung in einem Beispielprojekt.

Im Folgenden lesen Sie, wie der aktuelle Stand der Technik ist und vor allem, welche Methoden sich in der Praxis bewährt haben.

Für Gamification gibt es etliche Definitionen. Wohl die häufigste ist:

Gamification ist der Einsatz von spielerischen Elementen im nicht-Spiel-Umfeld.

Mir persönlich gefällt die von Seaborn und Fels aber viel besser:

Gamification ist ein konzeptioneller Ansatz, um die Motivation, das Engagement und den Spaß der Nutzer in computergestützten Umgebungen zu verstärken, die keine Spiele sind.

Kein Wunder, dass die Definition von Gamification schwer ist – denn ähnlich schwer zu beantworten ist die Frage: Was ist überhaupt ein Spiel? Seaborn und Fels sprechen hier von einem Elefanten-Problem: Es ist leicht zu sagen, ob man einen Elefanten vor sich hat, aber ziemlich schwierig, das sauber zu definieren.

Grundelemente bzw. Vorraussetzungen bei einem Spiel sind aber in jedem Fall:

  1. Freiwilligkeit
  2. Regeln
  3. Entscheidungsfreiheit
  4. Konflikt
  5. Lösung

Letztlich läuft alles darauf hinaus, dass wir bei Gamification dieselben psychologischen Mechanismen ausnutzen, wie es Spiele tun.

Was ist keine Gamification?

Wegen dieser Probleme mit der Abgrenzung ist man sich auch nicht einig, was nicht zur Gamification zählt.

In dem zu Zusammenhang tauchen immer wieder die folgenden Begriffe auf:

  • playful
  • ludific
  • funological

Diese sind im Deutschen noch weniger zur Abgrenzung geeignet, weil man alle drei mit spielerisch übersetzen könnte.

Klarer dagegen ist die Abgrenzung gegenüber Serious Games oder Games with a Purpose. Das sind Spiele, die nicht nur zum Vergnügen gespielt werden, sondern z.B. um etwas zu lernen. Deren Abgrenzung zur Gamification ist daher einfach, weil ein Serious Game ein richtiges Spiel ist – im Gegensatz zu einem System, das auf Gamification setzt – welches per Definition ja eben gerade kein Spiel ist.

Ob schon einzelne Elemente, die man aus Spielen kennt, ausreichen, von Gamification zu sprechen, darüber streiten sich die Experten. Manche sprechen bei den Sternen für die Produktrezensionen auf Amazon schon von Gamification. Andere meinen, dass es dazu ein komplexeres System bräuchte.

Doch für den Praktiker sind solche Fragen nicht so wichtig. Interessant ist es für uns vor allem, wo man diese Mechaniken sinnvoll einsetzen kann.

Einsatzgebiete heute

Screenshot Chore Wars

Auf Chore Wars (etwa „Krieg der lästigen Pflichten“) kann man selbst Ziele definieren. Die Mitglieder des eigenen Haushalts kämpfen dann um die Punkte – die sie bekommen, wenn sie Staubsagen, Abwaschen oder ihr Zimmer aufräumen.

Der häufigste Einsatzzweck von Gamification ist derzeit, das Verhalten der Nutzer zu ändern. Sie sollen dazu gebracht werden, sich einzubringen, Daten preiszugeben bzw. zu beschaffen, die Anwendung/Website regelmäßig zu nutzen oder ihr Verhalten im täglichen Leben zu verändern.

Die meisten Anwendungen kommen aus folgenden Bereichen:

  • Lernen
  • Gesundheit
  • Soziale Netzwerke/online communities
  • Crowdsourcing (gemeinsames Bearbeiten wissenschaftlicher Fragestellungen wie etwa bei
    Foldit
    )
  • Nachhaltigkeit/ökologisches Verhalten

Genutzte Mechanismen

Typische Mechanismen, die zum Einsatz kommen sind:

  • Punkte
  • Abzeichen („Badges“)
  • Belohnungen
  • Bestenlisten
  • Aufgaben/Herausforderungen
  • Status
  • Fortschritte
  • Neugier wecken
Screenshot StackExchange

Die Site für den Austausch von Programmierern StackExchange setzt auf eine große Menge von Abzeichen oder Badges, die man sich durch Interaktion mit anderen Nutzern verdient. Wer z.B. viele Fragen beantwortet, wird belohnt.

Wie entsteht Motivation?

Generell unterscheidet man in der Psychologie intrinsische und extrinsische Motivation.

Intrinsische Motivation kommt aus mir selbst – also etwa von meinen Werten, meinem Gefühl von sozialer Verantwortung oder auch einfach aus meiner Neugier.

Extrinsische Motivation dagegen kommt von außen. Das einfachste Beispiel dafür ist Geld.

Screenshot Website Recyclebank

RecycleBank versucht Menschen zu motivieren, mehr von ihrem Abfall zu recyceln – mit einer Mischung aus finanziellen Anreizen und Gamification-Elementen.

Möchte ich jemanden dazu bringen, sich umweltbewusst zu verhalten, kann ich seine intrinsische Motivation stärken – ihn also z.B. überzeugen, dass es gut für die Menschheit ist, wenn er seine Pfandflaschen zurückgibt.
Ich kann ihn aber auch extrinsisch motivieren, ihm also z.B. Geld zahlen, wenn er seine Flaschen zum Recyceln bringt.

Viele Untersuchungen belegen: extrinsische Motivation, insbesondere Geld, funktioniert fast immer schlechter als intrinsische Motivation.
Und: Schaffe ich eine extrinsische Motivation, kann das die intrinsische sogar verringern. Eine Geldbelohnung etwa führt bei manchen unter Umständen dazu, dass sie weniger wahrscheinlich das gewünschte Verhalten zeigen.

Screenshot App Zombies, Run!

Fitness-Apps arbeiten stark mit Gamification – Bestenlisten, Aufgaben/Herausforderungen, Abzeichen… Zombies, Run! macht aus dem Lauftraining ein richtiges Spiel und sprengt damit die Grenzen der Gamification.

Was uns motiviert, ist aber sehr unterschiedlich. Um intrinsische Motivation zu schaffen, ist die nutzerzentrierte Entwicklung also ein Muss. Ich brauche ein sehr gutes Verständnis von meiner Zielgruppe, wenn ich eine Anwendung entwickeln will, die sie wirklich motiviert.

Lange gab es etwa das Vorurteil, dass Frauen nicht gerne spielen. Das hat sich spätestens seit dem Aufkommen der Smartphone-Spiele („casual games“) geändert – hier sind Frauen die Hauptnutzer. Und auch bei traditionellen Computerspielen wächst der Anteil der weiblichen Spieler weiter.

Ohne User Research, Usability-Tests etc., ist es schwer, ein funktionierendes Gamification-System zu konzipieren. Auch ob etwas überhaupt als Motivation wahrgenommen wird, hängt stark von den Umständen ab.

Bringt Gamification etwas?

Die kurze Antwort: Ja.

Die etwas längere: Ja, offensichtlich, wie wir aus (qualitativen) Usability-Tests und A/B-Tests unzähliger Anbieter wissen. Aber die wissenschaftliche Beweislage ist noch dünn.

Seaborn und Fels sind die ersten, die 2015 eine Untersuchung der bisherigen Veröffentlichungen auf diesem Gebiet gemacht haben (Link siehe Ende des Beitrags).
Sie stellen fest: 61 Prozent der untersuchten Studien fanden einen positiven Effekt von Gamification, 39 Prozent hatten gemischte Ergebnisse.

Hauptgrund für die dünne Datenlage: Die Ansätze sind immer noch recht neu und Praktiker, die Apps und Websites entwickeln, setzen meist einfach schnell mal um, wenn die Ansätze sich in ersten qualitativen Tests als vielversprechend herausstellen.

Kritik an Gamification

Es gibt auch etliche Kritiker an dem Methoden der Gamification. Diese haben zwei Hauptargumente:

  • Gamification ist oft schlecht gemacht
  • Gamification kann unmoralisch sein

Beide Kritikpunkte sind aus meiner Sicht eigentlich keine an Gamification generell, sondern daran, wie diese Methode eingesetzt wird.

Einfach nur ein Punktesystem an eine schlecht konzipierte Anwendung anzudocken, das funktioniert nicht. Im Englischen gibt es den schönen Begriff pointsification dafür – Verpunktung könnte man das übersetzen. Dabei nimmt man den unwichtigsten Teil einer Spielerfahrung und baut sie in etwas anderes ein, wie etwa die Spiele-Designerin Margaret Robertson schreibt.

Selbst wenn so ein Punktesystem einen kurzfristigen positiven Effekt hat – dieser verpufft normalerweise schnell, wenn die Nutzer sich daran gewöhnt haben und mit der langsamen, mühsamen oder wenig nutzerfreundlichen Anwendung weiter arbeiten müssen wie bisher.

Screenshot Mail Dueling

Die App Duolingo motiviert dazu, dran zu bleiben am Sprachenlernen, auch indem es regelmäßig E-Mails schickt.

Der Philosoph und Spiele-Designer Ian Bogost nennt Gamification exploitationware, also Missbrauchssystem, das von Marketing- und Geschäftsleuten ausgenutzt wird.

Da ist natürlich etwas dran – wenn wir Systeme konzipieren, die unethischen Zwecken dienen (etwa den Nutzern das Geld aus der Tasche ziehen, wenn sie das nicht wollen). Gamification kann ein Ansatz sein, dieses unethische Ziel zu erreichen. Aber das kann UX generell sein. Usability-Tests können auch dazu dienen, herauszufinden, wie man Nutzer von Websites dazu bringt, möglichst viel Geld zu bezahlen, obwohl sie das nicht wollen.

Wir müssen also vor allem unsere Ziele auf den Prüfstein stellen, wenn wir dieses Problem umgehen wollen, weniger unsere Methoden.

Linktipps

Als bequemen, ja fast spielerischen Einstieg in die Thematik empfehle ich diesen Vortrag von Sebastian Deterding (– das Video ist nicht ganz neu, aber immer noch relevant; englisch mit deutschen Untertiteln):

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Wer tiefer einsteigen will in die wissenschaftliche Diskussion und in die Ansätze, die Wirksamkeit von Gamification in der Praxis zu prüfen, der sollte diesen Artikel lesen:
Katie Seaborn, Deborah I. Fels: Gamification in theory and action: A survey Er ist so teuer wie ein Fachbuch, aber er hat den Vorteil, viel kürzer zu sein – und bringt doch die wesentlichen Erkenntnisse der letzten Jahre auf dem Gebiet hervorragend auf den Punkt.

Portraitfoto: Jens Jacobsen

Jens Jacobsen

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