TEIL 1: „Inklusives Design“: Wie werden Anforderungen für besondere Zielgruppen analysiert?
Gehört “Barrierefreiheit” zu den Kundenanforderungen für die Konzeption einer Schnittstelle, stellt sich die Frage: Wie kann eine Schnittstelle gestaltet werden, um sie sowohl für Menschen mit besonderen Bedürfnissen als auch für jeden anderen gut nutzbar zu machen? Die angewendete Methodik muss dabei selbst den Kriterien der Usability genügen, das heißt unter anderem sich mit geringem Kosten- und Zeitaufwand vereinbaren lassen.
Der nutzerzentrierte Gestaltungsansatz nach DIN EN ISO 9241-210:2011 (UCD) bietet eine gute Grundlage. Die Vorteile des Prozesses liegen dabei klar auf der Hand:
- Vereinfachung des Bedienkonzeptes und damit verbundene Visualisierung der Informationsarichtektur/Schnittstelle etc.
- Weniger Supportanfragen aufgrund besserer Bedienbarkeit.
- Positives Image nach außen.
- Nachgewiesenermaßen bessere User Experience für alle Nutzer.
- Und nicht zuletzt: Rechtssicherheit für die Zukunft.
Der nutzerzentrierte Gestaltungsansatz wird im Kontext der Entwicklung von Schnittstellen für Menschen mit Einschränkungen auch als Inklusives Design, Universal Design oder Design für Alle bezeichnet. Ich beziehe mich hauptsächlich auf das Universal Design. Optimalerweise erfüllt eine Schnittstelle dessen sieben Prinzipien:
Prinzipien, die sich in erster Linie mit dem Menschen befassen
- Prinzip 3: Einfache und intuitive Benutzung
- Prinzip 4: Sensorisch wahrnehmbare Informationen
- Prinzip 6: Niedriger körperlicher Aufwand
Prinzipien, die sich in erster Linie auf den Prozess beziehen
- Prinzip 2: Flexibilität in der Benutzung
- Prinzip 5: Fehlertoleranz
- Prinzip 7: Größe und Platz für Zugang und Benutzung
Prinzipien, die Mensch und Prozess überschreiten
- Prinzip 1: Breite Nutzbarkeit
Herausforderung: Anforderungen analysieren
Das korrekte Erfassen des Nutzungskontextes und das Festlegen der Nutzungsanforderungen im UCD-Prozess ist für das Gelingen einer barrierearmen Gestaltung von wesentlicher Bedeutung. Designer und Entwickler benötigen geeignete Methoden, um Schnittstellen für Menschen mit Einschränkungen zu konzipieren. Da Menschen mit kognitiven Einschränkungen als Nutzergruppe bisher im Kontext der praktischen Entwicklung von Schnittstellen in der Literatur wenig adressiert sind, existiert dazu kaum Datenmaterial oder Best-Practice-Studien. Leider werden Accessibility-Experten häufig zu spät bei der Entwicklung barrierearmer Schnittstellen einbezogen: „Systementscheidungen stehen oft schon im Vorhinein fest, doch nicht auf jeder Plattform kann Universelles Design erfolgreich umgesetzt werden. Eine Faustregel besagt, dass Barrierefreiheit teuer und unzureichend wird, wenn sie im Nachhinein in ein Produkt „hineingetestet“ werden soll. Werden dagegen von Anfang an die Anforderungen von Menschen mit Behinderungen berücksichtigt, so bleibt die Barrierefreiheit kostenneutral.“ (UPA-Arbeitskreis Barrierefreiheit, 2007)
Was sind kognitive Leistungen bzw. Einschränkungen?
Wichtig ist zunächst zu klären, was unter dem Begriff „Kognitive Einschränkungen“ zu verstehen ist. Kognition bezieht sich auf die informationsverarbeitenden Prozesse des Gehirns. Damit sind die grundlegenden Fähigkeiten wie Wahrnehmung und die Aufmerksamkeit sowie die exekutiven Fähigkeiten wie das Planen, Problemlöseverhalten, die Reflexionsfähigkeit, Sprachformulierung, Rechenfähigkeit usw. gefasst (Schutz und Wanlass 2009). Diese Fähigkeiten versetzen uns in die Lage, unsere Umgebung bewusst wahrzunehmen und intelligent zu handeln.
Sind Teile dieser Fähigkeiten eingeschränkt oder verloren gegangen, so spricht man von kognitive(n) Einschränkung(en). Das Phänomen selbst ist jedoch nicht in einer Definition fassbar. In der Literatur existiert keine einheitliche Definition über die Ursache kognitiver Einschränkungen. Denn das Erscheinungsbild und die Ausprägung sind von individuellen körperlichen sowie soziale Faktoren abhängig, die so individuell sind, wie die Menschen, die sie betreffen. Für die Konzeption von barrierearmen Schnittstellen bedeutet dies eine Änderung der Anforderungen. Daher ist es empfehlenswert, Nutzer mit kognitiven Einschränkungen in unterschiedlicher Schwere im Entwicklungsprozess zu berücksichtigen.
Einschränkungen für den UCD-Prozess verstehen
Aus diesem Grund schlage ich einen erweiterten nutzerzentrierten Ansatz vor, der die Prinzipien des Universal Designs berücksichtigt. Dieser nutzt die so genannte Fähigkeiten-Einschränkungs-Matrix von E. Jokisuu et al. (2012). Mit der dieser werden Anforderungen von Nutzern mit kognitiven Einschränkungen für ein inklusives Design systematisch erhoben. Eine Beispielmatrix sehen Sie in Tabelle 1 dargestellt. Darin werden Ursachen kognitiver Einschränkungen in eine gewichtete Relation zu den kognitiven Funktionen gesetzt. Dabei wird mit der Matrixform eine leicht verständliche Repräsentationsform verwendet, die für Designer im Konzeptionsprozess einfach verständlich und nutzbar ist. Aus dieser können die Implikationen für die Konzeption direkt entnommen werden, was bisher mit den üblichen Methoden und dieser Zielgruppe nicht möglich war. Haben Menschen beispielsweise eine Leseschwäche, wirkt sich diese in den Dimensionen Sprache und Lernfähigkeit besonders aus. Für Designer bedeutet dies nicht nur das Verwenden einfacher Sprache. Sie müssen für die Nutzer so viel wie möglich visualisieren. Für Buttons bieten sich Symbol-Text-Kombinationen an. Multimodaler Output durch eine Sprachausgabe erleichtert das Verständnis. Im Bereich Lernen bieten sich Tutorial-Funktionen besonders an.
Zurück zur Matrix: Um diese zu erstellen werden in den Zeilen die medizinischen Faktoren bzw. Krankheitsbilder als Ursachen abgebildet, in den Spalten die kognitiven Fähigkeiten. Anschließend wird die Stärke der Verbindung zwischen jedem Krankheitsbild und der kognitiven Funktion, die es typischerweise beeinflusst, auf einer Skala von 1 bis 3 bewertet. 1 repräsentiert eine schwache Verbindung, wohingegen 3 den größten Einfluss der Ursache auf die kognitive Funktion abbildet. 0 zeigt an, dass keine bekannte Verbindung zwischen dem Krankheitsbild und der kognitiven Funktion besteht. Designer können so schnell erkennen, auf welche Aspekte sie in der Konzeption besonders Bezug nehmen müssen. Die hier verwendeten Daten stammen aus kontextuellen Interviews mit Nutzern, die eine Videotelefonie-Anwendung evaluierten. Mit Hilfe der hier verlinkten Tabellen werden die einzelnen Dimensionen aus den Spalten der Matrix definiert.
Noch einmal zur Erinnerung: Optimalerweise sollten die Daten die für die Matrix benötigt werden, für jeder Zielgruppe erneut erhoben werden, da sich die Ausprägungen der individuellen Einschränkungen durchaus ändern können.
Mit genügend Daten kann durch eine Bewertung der einzelnen Verbindungen ein Muster entstehen, was die Identifizierung der Problemstellen der Nutzergruppe vereinfacht. Voraussetzung für diesen Ansatz ist es, während der Anforderungsanalyse Daten zur Krankheitsgeschichte der einzelnen Nutzer z. B. in kontextuellen Interviews zu sammeln. Ergänzend hierzu biete sich auch Schnelltests wie der Montreal-Cognitive-Assessment (MoCA)-Test an, die entwickelt wurden, um kognitive Einschränkungen zu identifizieren und die Schwere einschätzen zu können. Das Framework befindet sich selbst noch in einem frühen Entwicklungsstadium, weshalb es Optimierungspotenzial vorhanden ist. Gleichzeitig bietet es einen entschiedenen Ansatz, Menschen mit kognitiven Einschränkungen in die Entwicklung einzubeziehen.
Im nächsten Blogbeitrag erwartet Sie folgendes…
Im 2. Teil meines Blogbeitrags werde ich Ihnen zeigen, wie die Daten aus der Matrix für die Konzeption einer barrierearmen Videotelefonie-Schnittstelle genutzt wurden. Bleiben Sie gespannt!
Dieser Blogbeitrag ist Teil des Beitrags: „Universal Design für und mit Menschen mit kognitiven Einschränkungen“ (Pagel & Bergmann, 2016), der während des 5. Interdisziplinären Workshops “Kognitive Systeme: Mensch, Teams, Systeme und Automaten”, am 14. – 16. März in Bochum vorgestellt wird.
Literatur
• Jokisuu E, Langdon PM and Clarkson PJ (2012). A Framework for Studying Cognitive Impairment to Inform Inclusive Design. In: Langdon P, Clarkson J, Robinson P, Lazar J and Heylighen A (eds) Designing Inclusive Systems: Designing Inclusion for Real-world Applications. London: Springer London, SS. 115–124.
• Pagel P & Bergmann K (2016). Eine Videotelefonie-Schnittstelle mit Assistenzsystem für Menschen mit kognitiven Einschränkungen. In: Eyssel F, Kluge A, Kopp S, et al. (Eds.), Proceedings 5. Interdisziplinärer Workshop Kognitive Systeme: Mensch, Teams, Systeme und Automaten.
• Schutz LE and Wanlass RL (2009) Interdisciplinary assessment strategies for capturing the elusive executive. American journal of physical medicine & rehabilitation / Association of Academic Physiatrists 88(5): 419–422.
• UPA-Arbeitskreis Barrierefreiheit (2007): „Barrierefreiheit – Universelles Design“.
Danke für den schönen Beitrag unter der Bezeichnung „Design für alle“ bzw. „Inklusive Design“. Ich möchte an dieser Stelle allerdings gerne eine zu häufig kolportierte Mär richtigstellen: Barrierefreiheit, „Design für alle“ oder wie man es auch nennen mag, kostet definitiv Geld. Es nützt niemandem, etwas anderes zu behaupten. Alle Beteiligten müssen Know-how erwerben und vorhalten. Auch der Auftraggeber. Das bedeutet Schulungsaufwand und Kosten. Testen und Qualitätssicherung spielen eine entscheidende Rolle für langfristige Barrierefreiheit. Auch das kostet Zeit und Geld. Aber auch auf technischer Seite stimmt die Aussage nicht. Für jedes Redaktionssystem gibt es tausende von Modulen. Wer sich nicht um Barrierefreiheit schert, kann sich de facto aus unzähligen Plugins bedienen. Für einen barrierefreien Output bedeutet das zumeist Anpassungen oder Eigenentwicklung. Auch hier wäre man im direkten Vergleich zumeist chancenlos. Gleiches gilt für die Frontend-Entwicklung. Es gibt tausende Plugins und genug Frameworks sowie fertige Templates für 08/15 Seiten. Für barrierefreie Seiten ist dies nicht der Fall. Es muss recherchiert, getestet, angepasst oder selbst entwickelt werden. Diese Liste könnte ich problemlos weiter ausführen. Ich habe dazu Ende letzten Jahres auf dem Barrierekompass mal einen Artikel geschrieben, den ich gerne an dieser Stelle verlinken möchte. http://barrierekompass.de/barrierefreies-internet/testen-ist-pflicht.html.
Beste Grüße, Jörg Morsbach (anatom5)